Ich fühle so viel Schmerz, wenn mein Kind frustriert ist und weint, dass es mich fast zerreißt.

Jens

Sandra möchte ein Coaching bei mir. “Thema Frustration meiner Tochter / meine Unsicherheit” schreibt sie in ihrer Mail. Sie möchte darüber reden, wie sie mit der Frustration ihrer Tochter umgehen kann – aber auch über sich selbst will sie sprechen: “Ich merke, wie sehr mich das stresst, aber auch, wie es mich unsicher macht, wenn Ina so sehr weint.” “Und was erhoffst du dir von unserem Gespräch über diese Themen? – Was möchtest du hier mitnehmen?”, frage ich. Den Stress kann ich jedenfalls spüren, das Hin- und Hergerissensein auch. Darum ist es mir so wichtig, dass wir wirklich beide klar sind, wo unsere Reise heute hingehen soll.  

“Ich genieße das schon immer noch sehr, unsere Einheit.”… “Aber manchmal, ist es nicht mehr immer so ganz stimmig… vor allem, wenn es sich so anfühlt, als ob Ina auch einfach mal aus Langeweile nach der Brust verlangt.

Die Worte sprudeln nur so heraus aus Sandra: Wie sie früher, wenn Ina weinte – egal warum – eigentlich immer gestillt hat und wie gut sich das auch angefühlt hat, so verbunden eben. “Ich genieße das schon immer noch sehr, unsere Einheit.” Aber manchmal, jetzt in letzter Zeit, sei es irgendwie nicht mehr immer so ganz stimmig… vor allem, wenn es sich so anfühlt, als ob Ina auch einfach mal aus Langeweile nach der Brust verlangt. Sandra merkt auch, dass sie selbst inzwischen gar nicht mehr immer Lust auf Stillen hat. Aber andererseits, wenn Ina sich sehr weh getan hat, zum Beispiel, dann möchte sie auf diese wunderbare Art, Trost zu spenden, ja nicht verzichten… 

Sandra sucht schon länger nach Antworten in diesem Dilemma. Sie erzählt mir, wie sie bei Elternseminaren von TransParents mitgemacht und verschiedenes gelesen hat. Ich erfahre, dass sie irgendwann sehen konnte, dass es ihrer Tochter nicht unbedingt gut tut, wenn alles immer nach ihrem Willen geht.

Wenn sie jetzt zurückblickt, würde sie sich wünschen, es leichter zu haben, mit Inas starken Gefühlen umzugehen.

“Hmm, eine zweischneidige Angelegenheit”, fasse ich irgendwann zusammen und das scheint bei ihr zu landen. Langsam kommen wir in Kontakt. Insgesamt spüre ich unter all den vielen Worten eine ziemlich große Ladung Stress. Und eben ein großes Hin- und Hergerissensein, besonders mit dem Stillthema. “Ich bin da so ambivalent.” sagt sie an einer Stelle. Das trifft es wohl. Ich lasse ihr Zeit und mache keinen Druck, mir zu sagen, was sie sich jetzt genau von unserem Gespräch erhofft, wir sind dabei, es gemeinsam herauszufinden.

Sandra erzählt mir auch von einer Situation, wo es ihr gelungen ist, Ina ein “Nein” zuzumuten. Sie hat einmal eine große und ziemlich ausdauernde Welle von Frustration begleitet. “Schwer war das”, sagt sie. Das Weinen, wenn Ina frustriert ist, das ist für sie wirklich “sehr schmerzhaft”. “Fast nicht auszuhalten.” “Aber irgendwie war es auch gut, – nach der Frustwelle.” Am Ende sei so eine große Ruhe eingekehrt. Sie, ihr Mann, der sie unterstützt hat, und auch Ina sind dann so ganz ruhig und verbunden auf dem Sofa zusammen gewesen. Wenn sie jetzt zurückblickt, würde sie sich wünschen, es leichter zu haben, mit Inas starken Gefühlen umzugehen. Irgendwas sei daran stimmiger, als Frust mit Milch “herunterzuschlucken”. Gleichzeitig merkt Sandra aber, dass sie sich wie so ein bisschen innerlich verschließen muss, um “es auszuhalten”, wenn Ina weint.

Da lade ich sie ein: “Du, also was ich von dir verstehe, ist, dass du gerne die innere Freiheit haben möchtest, zu entscheiden, ob du die Brust gibst oder Ina anders begleitest.” – Sie nickt. Das scheint zu passen für sie. “Und ich höre von dir, dass es dich aber sehr stresst, wenn sie weint.” – Sie nickt wieder. “Wir können ja ein bisschen schauen, was es mit deinem Stress in der Situation eigentlich auf sich hat. Das hilft dir vielleicht irgendwann eine echte Wahl zu haben, wie du Inas Frustration begleiten möchtest.” Sie nickt. Wir sind eingecheckt. Das merke ich. Es kommt für mich viel mehr Kontaktgefühl auf in unserem Raum.

Und wir forschen. Das Weinen ist es. Wenn Ina so in Wut und Frustration gefangen ist, dann klingt ihr Weinen so wie früher, als Baby. Das ist schlimm für Sandra. Das weckt Erinnerungen, höre ich. Ja, früher, ganz am Anfang, “das war so schlimm, dass wir nicht diese Einheit sein konnten”.

Ina musste gleich nach der Geburt auf die Intensivstation. Sie war verkabelt, bekam Medikamente. Sie weinte. Und Sandra konnte sie nicht auf dem Arm halten, wie sie es sich nicht sehnlicher hätte wünschen können. Ich kenne Teile der traurigen Geschichte. Und ich kann sie in ihrer Trauer um den verpassten ruhigen, warmen, verbundenen Start verstehen. Wir geben den Tränen Raum. Sie fühlt sich heilsam an, diese Trauer.

Aber dann ändert sich etwas. Sandras Gesicht verfinstert sich. Die Tränen versiegen. Ich werde neugierig. Sie sagt: “Ich kann einfach nicht verstehen, warum ich bis heute nicht darüber hinweg komme.”…  “Hmm, lass uns die Frage doch mal ernst nehmen und das herausfinden.”, schlage ich vor. “Warum kannst du über diese traurige Geschichte nicht hinweg kommen?” – “Ja weil ich so wütend bin!” – “Ja…, weil du so wütend bist.” Und auch hier verstehe ich sie gut. Ich weiß schon aus einem früheren Gespräch mit Sandra, dass man ihr am Ende der Tage auf Intensivstation sagte, dass es durchaus kein Problem gewesen wäre, das Baby auf dem Bauch oder im Arm zu haben, wenn nur der Personalmangel nicht gewesen wäre und man Zeit gefunden hätte, ihr das zu ermöglichen.

Ich bin einfach mit ihr, während sie sich erlaubt, ihre Wut zu fühlen.

“Ich bin so wütend auf mich!” – reißt Sandra mich aus meinen Gedanken. “Ich hätte was tun müssen! Ich hätte widersprechen müssen!” – Oh Mensch, denke ich mir. Wie leicht wir doch unsere ganz und gar gesunde Wut gegen uns selbst richten. Und wie schmerzhaft, fast schon verstümmelnd, das sein kann… Ich sage: “Oh, also ich finde es ja bedauerlich, dass du die Wut gegen dich selbst richtest, aber dass du wütend bist, verstehe ich gut. Ich erinnere mich, wie du mir erzählt hast, dass eure Trennung so nicht nötig war.” – Diese kleine Erinnerung an unser letztes Gespräch, wo sie sich zum ersten Mal erlauben konnte, wütend auf die Abläufe in der Klinik zu sein, reicht ihr aus. Scham und Schuld weichen einem Sturm der Entrüstung über das, was sie nach der Geburt erleben musste. Dass Personalmangel der einzige Grund war, ihr schreiendes Baby nicht hochnehmen zu können, bringt sie in Rage. Ich bin einfach mit ihr, während sie sich erlaubt, ihre Wut zu fühlen. Es ist gut für sie, das immer tiefer zu fühlen und es ausdrücken zu dürfen, ohne jede Relativierung oder Beschwichtigung. Sandra ergreift die Gelegenheit, es einfach nur schrecklich und unmenschlich finden zu dürfen, was sie da erlebte in diesem Moment, wo sie so herzoffen, so verletzlich, so weich war und einfach nur zu ihrem Baby wollte.

Minuten lang verbringen wir an diesem Ort der lebendigen Wut – bis auch diese Welle verebbt und einer tiefen Ruhe Platz macht. Ich lade Sandra ein, das einfach mitzubekommen, zu erleben, wie sie sich jetzt fühlt, nachdem sie sich ihre Trauer und Wut erlauben konnte.

“Du hast dich gerade mit ein wenig Unterstützung selbst durch einen Frustrationsprozess begleitet”, stelle ich fest.

“Du hast dich gerade mit ein wenig Unterstützung selbst durch einen Frustrationsprozess begleitet”, stelle ich fest. “Eine große Welle von Trauer und Wut ist durch dich hindurch gegangen. Wie geht es dir damit?” – “Gut”, sagt sie. Und ich merke, dass sie eine Verbindung knüpft. “Genau so gut ist es für Ina, wenn sie ihre Gefühle haben darf und du bei ihr bist und sie darin unterstützt.”

Ganz ruhig sitzen wir noch eine Weile im Nachklang des Erlebten.

Sandra

Meinen Frust und meine Wut zu spüren fühlte sich sehr gut an. Zu Beginn noch gehemmt – traue ich mich das wirklich zu fühlen? Und dann überkam mich doch dieses Gefühl, dass ich nicht mehr stoppen konnte. Es war herrlich, im Nachhinein zu spüren und zu fühlen – sich das zu erlauben und sehr wohltuend, wenn man diesen Raum bekommt ohne Kommentare/Ratschläge oder Kleinrederei. Sondern einfach mit diesem Gefühl zu SEIN und jemand hält den Raum dafür.

Es fasziniert mich immer wieder, dass ich mit einem ganz anderen Thema reingehe und dann während des Coachings sich etwas tief verborgenes zeigt, dass zu Beginn sehr sehr schmerzt, aber dann doch leichter wird und sich dann in eine innere Wärme verwandelt.

Ich konnte dann sogar mal Tage später meine Wut durch stampfen und auf einen Ball schlagen ausdrücken. Das fühlte sich sehr gut an und war lustig. Meine Tochter hatte auch Spaß dabei, zuzusehen, da ich einfach authentisch war und klar sagte und zeigte, wie ich mich fühlte.

Meinen Frust selbst gespürt zu haben und die daraus resultierende Verwandlung gibt mir Zuversicht

Meinen Frust selbst gespürt zu haben und die daraus resultierende Verwandlung gibt mir Zuversicht, den Frust meiner Tochter gelassener begleiten zu können. Und auch klar zu unterscheiden ist es ein wichtiges Stillbedürfnis oder doch nur aus Langeweile und für diesen kommenden Frust der Fels in der Brandung zu sein.

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