Ich bin immer wieder so hart zu meinem Kind, dass ich mich selbst vor mir erschrecke

Jens

Julien hat sich bei mir gemeldet. Er möchte ein Coaching machen, weil er seiner Tochter Sophie gegenüber immer wieder so abwehrend und hart wird, sagt er, dass er sich manchmal vor sich selbst erschreckt. Sophie ist jetzt acht.

Er sieht angestrengt aus, als ich ihn sehe, erschöpft auch, einfach sehr unter Druck… Um seiner Tochter ein besserer Vater zu sein, möchte er heute vor allem über sich sprechen. Er würde gerne Frieden in sich selbst finden, damit es ihr gegenüber Frieden geben kann. Alles andere sei “Symptompolitik”. Es freut ihn sichtlich, dass ich über den Ausdruck schmunzle. Und bevor ich weiter etwas fragen kann, höre ich die ganze leidvolle Geschichte rund um Sophie:

Julien und ihre Mutter haben sich nicht lange nach der Geburt getrennt. Seit das Kind knapp ein Jahr alt ist, haben sie eine Situation, wo er Sophie nur alle 14 Tage am Wochenende sieht. Auch dafür musste er vor Gericht kämpfen. Er hatte einen schlechten Stand vor dem Familiengericht, weil er gerade dabei war, sich aus einer Medikamentenabhängigkeit zu befreien. Der Dialog mit Sophies Mutter war jahrelang extrem belastet. Ein Gefühl von “Wir-sind-Sophies-Eltern” gab es lange nicht, nur Kälte, Streit und knappe Übergaben. Jetzt, in letzter Zeit, kann er langsam normal mit ihr reden. Ich kann nachempfinden, was für eine schmerzhafte Situation er da seit 7 Jahren mitmacht. Er wollte das nie, dass die Kommunikation so abreißt und Sophie so darunter zu leiden hat.

Und jetzt erzählt Julien mir das, was er – glaube ich – einfach unbedingt erzählen wollte, weil es ihm so auf der Seele lastet: Sophie sei neulich nochmal draußen gewesen, abends, zum kleinen Wäldchen und zurück. Das macht sie gerne, wenn sie am Wochenende bei Julien und seiner heutigen Partnerin ist und ihr kleiner Halbbruder ins Bett gebracht wird. Sie ist ja schon groß und kann sowas auch alleine. Und Autos fahren da fast nie. Neulich ist sie aber ungewöhnlich lange ausgeblieben… “Ich dachte mir oh Scheiße, wenn ihr was passiert ist in dem Moment…” höre ich von Julien. “Aber dann… also… ich hab es noch niemandem erzählt, aber dir sag ich’s…” 

Und da übermannt ihn eine so heftige Welle von schmerzhaften Gefühlen, dass ich selber ganz ergriffen bin. So quält ihn das, was er im Begriff ist zu sagen, dass er die Hände hebt und gegen Kopf und Gesicht presst. “Ich hab’ gedacht… es wäre auch eine Erleichterung, wenn ihr was zugestoßen wäre…wenn sie nicht mehr wiederkäme…”

Ich bin mit ihm. In mir ist überhaupt kein Urteil. Ich sage einfach: “Doch. Sowas kann sein.”

Es ist raus. Was für eine Scham. Was für ein Leid Julien ins Gesicht geschrieben steht.  “Das kann doch nicht sein, wenn ich als ihr Vater Sorge um sie hab’ und gleichzeitig denke, es wäre so erleichternd, wenn es sie nicht mehr gäbe…!” Ich bin mit ihm. In mir ist überhaupt kein Urteil. Ich sage einfach: “Doch. Sowas kann sein.” Und habe einfach Mitgefühl. Ich weiß aus früheren Gesprächen, wie viel Liebe dieser Mann für sein Kind hat. Und ich kann wahrscheinlich nicht mal ahnen, wie viel er für diese Liebe und diesen Kontakt schon in Kauf genommen hat. Und ich kann fühlen, bei aller Liebe: “Sowas kann sein.” Und daher biete ich ihm an: “Du möchtest Frieden in dir. Was wir dafür tun könnten, wäre die Gründe zu erkunden, die dich da bewegen, wenn du so einen Gedanken denkst.” 

Von Thich Nath Hanh gibt es das wunderbare Zitat: “Verständnis ist der andere Name der Liebe, wenn wir nicht verstehen, können wir nicht lieben.” Ich weiß noch nicht, wo unsere Reise heute hingehen wird, aber ich vertraue darauf, dass sich auch diese Gedanken, für die Julien sich so schämt, verstehen lassen. Und ich bin überzeugt, dass bei Juliens Suche nach Frieden, Liebe die Antwort ist. Und er findet seine Antworten, als ich ihn Frage: “Was wäre denn die Erleichterung für dich, wenn Sophie wirklich nicht mehr wiedergekommen wäre?”. Irgendwie ist da jetzt, wo das “Geständnis” raus ist und nicht verurteilt wurde, ein Raum entstanden – ein Raum, in dem Julien neugierig auf sich selbst sein kann.

“Ja, ich müsste nicht mehr mit ihrer Mutter in Kontakt bleiben, das wäre wirklich leichter für mich.” Er atmet tief durch. Ich habe keine Ahnung von dem Konflikt. Ich würde nie urteilen. Aber dass es Julien zutiefst erleichtern würde, diese “Baustelle” nicht mehr zu haben, steht ihm ins Gesicht geschrieben. Und nur darum geht es jetzt. “Kannst du dich da verstehen?” frage ich. Und das kann er. Man kann die Entlastung, die durch seinen Körper geht, richtig sehen. Aber es ist noch viel mehr Stress da, das spüre ich auch.

“Und gibt es noch mehr, was für dich erleichternd wäre?” – “Ja… da ist noch mehr…“ – Ich kann sehen, wie es Julien schwer wird ums Herz bei dem, was er im Begriff ist, jetzt zu sagen. “Wenn Sophie nicht mehr da wäre, dann wäre es hier, in der Familie, viel einfacher. Alle 14 Tage müssen wir sie integrieren, meine Frau, unser kleiner Sohn und ich. Wir sind ja nach 14 Tagen alle wieder an einem ganz anderen Punkt. Und Sophie ist auch ganz woanders nach 2 Wochen bei ihrer Mutter. Jedes Mal ein neues Kennenlernen. Manchmal läuft es ok. Manchmal ist Sophie so unter Stress und Strom, wenn sie hier ankommt, dass es wirklich herausfordernd ist. Es wird immer leichter für mich, aber ich hab’ es immer wieder schwer mit ihrer krassen Energie umzugehen, wenn sie wild ist, oder aggressiv. Ich nehme dann Sophie und unterstütze sie so gut ich kann. Aber meine Frau, die mit dieser Energie auch ziemlich zu tun hat, und unser kleiner Sohn, brauchen auch was. So viele Arme hab’ ich gar nicht. Nach so einem Wochenende bin ich oft völlig fertig und frage mich, ob ich auch nur einen Moment lang mich selber spüren konnte…” 

“Ja… das tut gut, dass das einfach so sein darf.” sagt Julien.

“Und wie ist es, das anzuerkennen?” frage ich. “Da ist deine große große Liebe zu ihr, für die du bereit warst, schon so viel zu tun, so viel zu investieren… UND du findest das Leben mit ihr manchmal total anstrengend.” … “Ja… das tut gut, dass das einfach so sein darf.” sagt Julien. Und etwas passiert mit ihm, das mit Worten kaum zu beschreiben ist. Es ist wie eine Welle der Entspannung, die durch seinen Körper rollt. Seine Mimik, seine Haltung, ganz viel verändert sich. Ich lasse ihm viel Zeit damit… Diese so ganz körperlichen Prozesse brauchen Raum.

Und alles passierte, als Julien sich erlaubt hat, seine Tochter manchmal anstrengend zu finden. Ich war das nicht, da bin ich ganz sicher. Und es hätte auch nichts gebracht. Nein, in diesem Raum hat Julien sich diese Erlaubnis selbst gegeben. Er wiederholt sie noch einmal: “Es ist ok, wenn ich Sophie auch mal anstrengend finde”. Und wieder sieht man, wie es seinen Körper durchströmt und der Stress abfällt. “Und ich bin stolz auf mich, dass ich das all die Jahre so gut gemacht habe – dass ich dageblieben bin, und mich nicht weggemacht habe, wie früher, wenn mir alles zu viel war. Ich bin dageblieben.” 

Zum Ende der Sitzung ist eine große Ruhe da. Frieden. Und Julien sagt, er freut sich auf die Heimkunft seiner kleinen Familie, die eben einen Ausflug machen. Sophie ist auch dabei.

Julien

Ich bin mit meiner Frau, unserem gemeinsamen Sohn und meiner älteren Tochter Sophie zu Hause. Und mal wieder fällt mir voller Verzweiflung auf, wie viel schneller Sophie mich nervt, wie viel schneller ich ihr gegenüber harsch, hart, kalt und auch laut reagiere, mit was für einem viel weicheren Blick ich meinen kleinen Sohn anschaue. Der Schmerz, das Unverständnis über mein Verhalten, bringt mich an den Rand der Verzweiflung. Besonders deutlich wird mein Verhalten in den Zeiten, in denen wir zu viert als Patchwork-Familie agieren. Wo kommt das her, dass ich Sophie so oft so scheiße finde, sie mich einfach nur nervt, ich sie einfach nur anstrengend finde und alles was mit ihr zu tun hat und ich sie nicht mehr in meinem Leben haben möchte? 

Einen Abend ging Sophiel alleine nochmal zum Wäldchen. Irgendwann keimt in mir so etwas wie Sorge auf, dass ihr was passiert sein könnte. Ich mache mich auf den Weg, um nach ihr zu schauen. Auf dem Weg spüre ich eine unendliche Erleichterung bei dem Gedanken daran, sie komme nicht mehr wieder zurück, für immer. Und falle sofort in einen wahrlich dunklen Abgrund. Scham, Selbsthass, Geißelung, Unverständnis. Unter Tränen berichte ich Jens davon im Eltern-Coaching und stelle total aufgelöst die völlig verzweifelten Fragen, das kann doch nicht sein, das darf doch nicht sein, das ist doch nicht normal. Jens hält das, öffnet einen Raum und sagt: “Doch das darf da sein. Ich lade dich ein, mit mir zusammen mal hin zu schauen, warum das da ist.“

Und gemeinsam schauen wir hin. Schauen, unter welchen Umständen Sophie geboren wurde. Ich befand mich damals auf dem Höhepunkt einer sich seit über 20 Jahren entwickelnden, Suchterkrankung, die ich verdeckt vor meinem sozialen Umfeld auslebte. Sophies Geburt war Anlass zum Coming-out und zum Entzug. Das Coming-out war für Sophies Mutter Anlass zur Trennung. Sechs Monate nach ihrer Geburt lebten wir schon nicht mehr zusammen, neun Monate nach ihrer Geburt lebten wir in verschiedenen Städten. Ihre Mutter war mit ihr in ihre Heimat zurückgezogen. Ich musste mir das Umgangsrecht unter strikten gerichtlichen Auflagen erkämpfen. Jeder erdenkliche Stein wurde mir dabei in den Weg gelegt, über fast sechs Jahre hinweg. 

Mit Jens zusammen komme ich an den Punkt, dass ich das anstrengend finden darf, bis heute.

Mit Jens zusammen komme ich vorsichtig an den Punkt, dass aus dieser Zeit eine tiefe Erschöpfung ins Heute wirkt und ich diese Erschöpfung mit Sophie assoziieren darf. Mit Jens zusammen komme ich an den Punkt, dass ich Sophie anstrengend finden darf, dass ich die Umstände, die ihre Existenz in mein Leben bringt, anstrengend finden darf. Ihre Mutter hat über sie viele Jahre lang viel Unruhe in meine neue Familie gebracht. Mit Jens zusammen komme ich an den Punkt, dass ich das anstrengend finden darf, bis heute. Auch wenn sich der Kontakt zu Sophies Mutter mittlerweile glücklicherweise in Sophies Sinne ziemlich entspannt hat. Auch heute darf ich das noch anstrengend finden, es war eine verdammt harte und anstrengende Zeit, und die darf ich auf Sophie projizieren. Das ändert nichts daran, dass ich sie als meine Tochter zutiefst liebe. Mit Jens zusammen komme ich an den Punkt, dass ich es verdammt noch mal belastend finden darf, für Sophie Kontakt mit ihrer Mutter haben zu müssen und dass das nichts daran ändert, dass ich sie als meine Tochter zutiefst liebe. 

Das befreit und befriedet mich innerlich, ich kann förmlich spüren, wie eine jahre alte Last langsam von meinen Schultern gleitet. Unterwegs halten wir immer wieder an, spüren der Anstrengung nach und die Ruhe in mir wird zunehmend größer. Während des Coachings sagt mir Jens an einer Stelle, ich sei gerade maximal freundlich zu mir selbst. Ich gestünde mir die Erschöpfung aus dieser Zeit zu. Ich gestünde mir die Anerkennung zu, dieses jahrelange Balancieren innerhalb der Patchwork-Familie gemeistert zu haben. Und ich gönne mir den Stolz und die Anerkennung, das ganze nüchtern geschafft zu haben. Nach 20 Jahren, in denen Konsum meine einzige Strategie war, mit Druck umzugehen, kann ich zurecht stolz sein. 

Das fühlt sich wie Balsam auf meiner Seele an. Jemand sieht mich, meine Belastung, meine Leistung und erlaubt mir, mir das zuzugestehen, ohne mich dafür zu geißeln. Heilsam. Befreiend. Eine Anerkennung, die ich mir in Bezug auf andere tiefgreifende Lebensereignisse in meiner NARM-Therapie langsam und mühsam erarbeite, die ich mir ebenfalls drei Jahrzehnte lang nicht zugestehen konnte. Hier schließt sich ein wundervoller Kreis in mir und mir wird ganz selig.

Nach dem Coaching sitze ich noch ungefähr eine Stunde auf dem Sofa, weine bitterliche Tränen, komme immer mehr ins erwachsene Bedauern

Gemeinsam schauen wir dahin, wie anstrengend die letzten Jahre waren und was für ein Segen und ein großes Glück es ist, dass es mir mit meiner Frau gemeinsam gelungen ist, die Familie durch die Zeit zu halten. Nun sei eben der Zeitpunkt gekommen, zu bedauern und zu heilen. Familie – insbesondere Patchworkfamilie – ist eben kein Tanz auf einer rosaroten Blumenwiese, es ist harte anstrengende Arbeit und unendlich schön, tief und weit. Wir beenden das Coaching mit meiner Feststellung, wie sehr ich mich nun auf meine drei Herzmenschen freue. 

Nach dem Coaching sitze ich noch ungefähr eine Stunde auf dem Sofa, lasse das Erlebte nachwirken, weine bitterliche Tränen, komme immer mehr ins erwachsene Bedauern, realisiere die enorme Anstrengung und spüre eine immer größer werdende Wärme, einen größer werdenden Innenraum, eine innerliche Befriedigung. Schon in den ersten 24 Stunden nach der Sitzung gibt es zahlreiche Situationen, in denen ich Sophie gegenüber schier hätte ausrasten können. In einigen reagiere ich ungehalten und in vielen gelingt es mir, einmal tief durchzuatmen, mir mit einem inneren Mantra zuzugestehen, sie anstrengend finden zu dürfen, angestrengt sein zu dürfen. Und jedes Mal werde ich von dem Effekt voll überrollt. Meine Nacken-, Kiefer- und Schultermuskulatur entspannt sich, es fühlt sich an, als würde eine Schleuse zwischen Kopf, Herz und Bauch geöffnet und sich in mir ein Raum, eine Weite, eine warme helle Liebe öffnen und ich kann die Situation so nehmen wie sie ist. Das bedeutet für mich einen großen Frieden, der weit über Sophie und mein Verhältnis zu ihr hinausgeht. 

Und auch jetzt, beim Verfassen dieser Zeilen, komme ich in ein tiefes Bedauern. Wie anstrengend mein Leben ist, seit Sophie darin vorkommt. Nach über zwei Jahrzehnten aus dem Suchtnebel aufzutauchen und sofort die Verantwortung für zwei Leben zu übernehmen, meins und ihres, ist anstrengend und so schön. So schön, sich dieser Verantwortung bewusst zu sein, sie zu bejahen, sie anzunehmen und auch die Anstrengung zu akzeptieren. Das ist das Leben – es ist schön und anstrengend.

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